Autor*innen: Dr. phil. Ulli Biechele, Dipl.-Psych. Margret Göth, Dipl.-Psych. Thomas Heinrich, Dr. Dipl-Psych. Jochen Kramer und Dipl.-Psych. Andrea Lang
Psychotherapie ist nicht gleich Psychotherapie, Beratung ist nicht gleich Beratung. Es gibt nämlich unterschiedliche Behandlungsansätze, sogenannte „Therapieschulen“ (die auch in der Beratung genutzt werden). Die einzelnen Schulen haben zum Teil sehr verschiedene Menschenbilder und Behandlungsformen. Auch in der Haltung zu LSBTIQ* gibt es Unterschiede.
Wichtig für die Wahl einer Therapie: Welcher „Schule“ eine Therapeut*in angehört, ist eine Seite der Entscheidung. Genauso wichtig ist, wie die Therapeut*in die eigene Lebenserfahrung und die Erfahrung mit LSBTIQ*-Klient*innen in die Arbeit einbringt.
Die verschiedenen Therapieschulen
In der Psychoanalyse werden aktuelle seelische Probleme vor allem auf ungelöste Konflikte in der Kindheit bezogen. In der psychoanalytischen Therapie geht es darum, diese Konflikte, die ins Unbewusste verdrängt sind, mit dem Bewusstsein (wieder) zu entdecken und mit Hilfe der therapeutischen Beziehung neu zu lösen. Methoden hierbei sind z.B. die Traumdeutung und das freie Assoziieren (alles aussprechen, was einem einfällt). In der klassischen Form dauert die Therapie mehrere Jahre und findet auf der Couch statt. Heute wird die Psychoanalyse jedoch ebenso auch im Sitzen bzw. in einem kürzeren zeitlichen Rahmen durchgeführt.
Tiefenpsychologisch fundierte Therapie ist eine Ableitung bzw. Weiterentwicklung der klassischen Psychoanalyse. Sie ist weniger streng auf die Analyse der Kindheit bezogen und bezieht Elemente und Methoden anderer Therapieformen mit ein.
Die Verhaltenstherapie (VT) geht davon aus, dass alles Denken und Verhalten gelernt wird. Wenn eine Person ihr eigenes Verhalten und Denken als problematisch bzw. selbstschädigend erlebt, soll sie dieses Denken und Verhalten in der Verhaltenstherapie verlernen – egal aus welchen Gründen sie sich früher einmal daran gewöhnt hat. Verhaltenstherapie kann man sich also ungefähr wie ein Training neuer Denk- und Verhaltensformen vorstellen. Dazu werden eine Reihe von Methoden angewandt, z.B. „Hausaufgaben“, Selbstsicherheitstraining, Entspannungsübungen usw.
Die Gesprächspsychotherapie (GT) oder klient_innenzentrierte Therapie bzw. Beratung orientiert sich am humanistischen Menschenbild. Demnach weiß jeder Mensch in seinem Inneren, wohin sein Leben führen soll, was er tun und lassen will oder kann. Wo dieses Wissen von schlechten Erfahrungen überlagert, von Geboten und Verboten verdeckt ist, ist es notwendig, die eigenen Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Gesprächspsychotherapie gleicht also einer Forschungsreise ins eigene Innere, um seine Wünsche und Bedürfnisse (wieder) kennen zu lernen, sich selbst besser zu verstehen, und somit besser für sich selbst sorgen zu können.
Systemische Therapie ist eine Weiterentwicklung der Familientherapie. Sie betrachtet den Menschen nicht isoliert, sondern in seinen sozialen Bezügen. Im Mittelpunkt von Beratung und Therapie steht das aktuelle Problem, bzw. das Ziel, welches die ratsuchende Person selbst bestimmt. Hierbei geht es darum, neue Sichtweisen zu ermöglichen sowie Fähigkeiten und Ressourcen im Lebensumfeld (wieder) zu aktivieren. Dazu werden z.B. auch Übungen für zuhause mitgegeben. Auf Wunsch kann die Betrachtung der Herkunftsfamilie mit einbezogen werden.
Körperorientierte Verfahren wie z. B. die tiefenpsychologisch orientierte Bioenergetische Analyse beziehen sich auf die Einheit von Seele, Geist und Körper. Psychische Probleme und psychosomatische Symptome werden dadurch erklärt, dass in unserer westlichen Welt der Geist als wichtigster Bestandteil des Menschen gilt und der Körper das Schlusslicht bildet. Körpertherapie versucht hier einen Ausgleich zu schaffen: durch die Schulung der Körperwahrnehmung, durch Entspannungs-, Atem- und Ausdrucksübungen, Berührungen und Massage. Dadurch wird ein ganzheitlicheres Erleben und Handeln möglich, das zu größerem Wohlbefinden, einem stärkeren Selbstwertgefühl und zu mehr Lebendigkeit führt.
Die Gestalttherapie stellt ebenfalls den Menschen als Gesamtheit von Körper, Seele und Geist in den Mittelpunkt. Vor allem geht es hier um einem besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen und damit zu mehr Ich-Stärke. Dazu sollen in der therapeutischen Arbeit vor allem Wahrnehmungsübungen, Körperarbeit und Gespräch und die Hinwendung zum „Hier und Jetzt“ verhelfen.
In der Transaktionsanalyse geht es vor allen Dingen um die Kommunikation zwischen Menschen. Demnach hat jeder Mensch drei Kommunikationsebenen: das Kind-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Eltern-Ich. Die meisten Konflikte entstehen im Alltag dadurch, dass Menschen einander auf unterschiedlichen Ich-Ebenen begegnen. Informationsfragen werden so z.B. oft als Vorwürfe wahrgenommen. In der Therapie wird deshalb vor allem daran gearbeitet, solche „Kommunikationsfallen“ zu erkennen und neue Ausdrucksformen v.a. auf der „Erwachsenen-Ebene“ einzuüben.
Psychodrama als tiefenpsychologisch orientiertes Verfahren bezieht sich vor allem auf die Begegnungen mit anderen Menschen, die unser Leben prägen, unsere Gefühle und unser Verhalten bestimmen. In Rollenspielen können diese Begegnungen und andere schwierige Situationen wieder aufgegriffen werden. Über das Nachspielen hinaus können neue Perspektiven eingenommen, andere Handlungsmöglichkeiten ausprobiert und erlebt werden. Die Förderung der eigenen Spontaneität und Kreativität ermöglicht zudem einen leichteren Umgang mit bisher belastenden Situationen.
Haltung der Therapieschulen zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität
Die einzige Therapieschule, die sich ausdrücklich mit dem Thema Schwul- bzw. Lesbisch-Sein auseinandergesetzt hat, ist die Psychoanalyse. Ihr Begründer Sigmund Freud erachtete Homo- und Heterosexualität als gleichwertig und gleich würdig. Seine Nachfolger*innen prägten jedoch später das Bild von der Krankhaftigkeit, das dem Schwul- bzw. Lesbisch-Sein seither anhängt. So wurde männliche Homosexualität häufig mit einer dominanten Mutter und einem schwachen Vater erklärt. Bis vor einigen Jahren weigerten sich alle psychoanalytischen Ausbildungsinstitute, offen homosexuelle Kandidat*innen auszubilden. Aus diesem Grund gab es bis vor wenigen Jahren so gut wie keine offen schwulen oder lesbischen Psychoanalytiker*innen. In der neuesten Zeit hat sich das jedoch geändert, und auch mehr und mehr heterosexuelle Psychoanalytiker*innen begegnen ihren lesbischen Klientinnen und schwulen Klienten mit großem Respekt und fundierter Kenntnis. Entsprechendes gilt auch für die tiefenpsychologisch orientierten Verfahren.
Alle anderen Therapieschulen haben sich auf der theoretischen Ebene nicht oder nur sehr am Rande mit dem Thema Homosexualität beschäftigt. Praktizierende Therapeut*innen haben sich daher in der Vergangenheit häufig an der herrschenden gesellschaftlichen Meinung orientiert. Solange Homosexualität als „abartig“ galt, wurden auch Behandlungsformen angeboten, um sie zu „heilen“, d.h. auszutreiben. Besonders die VT hat sich hier mit den bereits erwähnten „Trainings“ hervorgetan, bei denen schwule Männer durch Stromstöße „verlernen“ sollten, Bilder von nackten Männern geil zu finden.
Systemische Therapie und Beratung sind zum großen Teil aus der Familientherapie entstanden. Daher halten traditionelle Formen eher am heterosexuellen Familienbild fest. Neuere Formen haben dieses Bild jedoch überwunden und arbeiten wertfrei mit allen Personen, Paaren und Gruppen.
Bei den humanistisch geprägten Therapien (Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie), aber auch bei den anderen Formen, besteht die Gefahr, unter dem Motto „ich bin o.k., du bist o.k.“ zu übersehen, dass Lesben und Schwule nicht nur individuell bedingte Probleme haben, sondern auch solche, die ihnen die Gesellschaft schafft. Wenn alles, was im Leben schwierig ist, auf einen selbst bezogen wird, und nie auf die Situation als Angehörige*r einer Minderheit, kann einem unter Umständen bald die Lust ausgehen, das immer wieder zu erklären.
Auch Menschen, die trans* sind, wurden schulenübergreifend mit einer Krankheitsdiagnose versehen. Erst in den letzten Jahren wird in der Psychotherapie anders auf Trans* geschaut: nämlich nicht als Krankheitskategorie, die von außen vergeben wird, sondern als eine gesunde Selbstbeschreibung. Damit Krankenkassen die Behandlungskosten für geschlechtsangleichende Maßnahmen übernehmen, ist es trotzdem bis heute noch erforderlich eine Krankheitsdiagnose zu nennen. Das wird sich in den nächsten Jahren hoffentlich ändern: die Weltgesundheitsorganisation überarbeitet nämlich gerade das Diagnosesystem. Wichtig ist momentan, dass Psychotherapeut*innen sich selbst im Klaren darüber sind und auch die Klient*innen entsprechend aufklären: die Krankheitsdiagnose erfolgt nur aus formalen Gründen! Trans* zu sein kann nicht von außen festgestellt werden. Es gibt dafür auch keine geeigneten Testverfahren.
Jede Psychotherapieschule stellt heute in Theorie und Praxis das Wohlergehen der Ratsuchenden in den Mittelpunkt, und zwar entsprechend Ihren eigenen Maßstäben. Das darf über eines nicht hinwegtäuschen: Keine Schule hat sich jemals darum gekümmert, ob Menschen, die LSBTIQ* sind, dafür besondere Maßstäbe brauchen. Alles was es an Theorie hierzu gibt, haben Psychotherapeut*innen, die LSBTIQ* sind, selbst geschrieben, weil sie merkten, dass etwas fehlt.
Letzte Aktualisierung: 05.11.2020